Unerhört! Diese Langzeitarbeitslosen
Diakonie und KDA haben zur Diskussion über die Situation langzeitarbeitsloser Nicht-Wähler und -Wählerinnen eingeladen
Die Denkfabrik aus Stuttgart war Anfang April 2019 auf Einladung der Diakonie Bremen und des kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (kda) zu Gast, um über die qualitative Studie „Gib mir was, was ich wählen kann“ zu sprechen. In der Studie schaute die Denkfabrik - Forum für Menschen am Rande aus Sicht ausgegrenzter Menschen, also vom Rand der Gesellschaft, auf die aktuelle Demokratiekrise. Menschen aus prekären Lebenswelten beteiligen sich immer weniger an Wahlen. Überdurchschnittlich hoch vertreten sind dabei Langzeitarbeitslose. Sie sind bei dieser explorativen Studie selbst zu Forschern geworden und haben langzeitarbeitslose Nichtwähler befragt. Sie wollten wissen, warum sie nicht mehr wählen gehen. Sie sind die Ersten, die auf diesem direkten Weg nach den Motiven fragen und schließen damit eine wichtige Forschungslücke, wissenschaftlich begleitet durch den Soziologen Franz Schultheis.
Vorstellung der Studienergebnisse
Nach einer Vorstellung der Studienergebnisse mit Vertretern und Vertreterinnen von Diakonie und Kirche am Dienstag, folgte am Mittwoch ein Workshop im Familien- und Quartierszentrum in der Neuen Vahr-Nord, an dem 23 Personen, Langzeitarbeitslose und Multiplikatoren, teilgenommen haben. Die Ergebnisse und Lösungsansätze aus diesem Workshop wurden zusammen mit der Studie abends bei der öffentlichen Veranstaltung des kda und der Diakonie „Unerhört! Diese Langzeitarbeitslosen“ im forum Kirche vorgestellt.
Mehr als 30 Interessierte waren in die Hollerallee gekommen, um sich mit dem Thema der Wahlbeteiligung von Langzeitarbeitslosen zu befassen. Inge Danielzick, Leitung kda, begrüßte die Anwesenden und kritisierte in ihren Eingangsworten, dass wir uns an die hohe Erwerbslosenquote von mehr als 12 Prozent (Erwerblose in Maßnahmen mitgezählt) in Bremen gewissermaßen gewöhnt hätten. Deshalb sei es wichtig, über dieses Thema zu sprechen.
Gib mir was, was ich wählen kann
Martin Tertelmann von der Denkfabrik stellte die Studie „Gib mir was, was ich wählen kann“ vor. „Je höher die Arbeitslosenquote im Stadtteil ist, desto geringer ist die Wahlbeteiligung“, erläuterte er gleich zu Beginn. Eine besondere Herausforderung sei es für das Forschungsteam, bestehend aus Betroffenen und Wissenschaftlern, gewesen, langzeitarbeitslose Nicht-Wähler und –Wählerinnen zu finden. Nur über persönliche Kontakte sei es überhaupt möglich gewesen, daher habe es besonders viele Interviews in Süddeutschland gegeben. Fünf der Interviews seien aber auch in Bremen geführt worden. Er zitierte einige Stellen aus Interviews, die die Motive für das Nicht-Wählen deutlich machten: „Es ist keiner da, den ich wählen kann“, „Also warum soll ich das mit meiner Stimme noch legitimieren“ oder „Es fehlt den Politikern einfach an Volksnähe“. Es zeigte sich in der Studie, dass die durchaus politisch interessierten Nicht-Wähler u.a. den Glauben an Sinn und Regeln der Demokratie verloren hatten, durch das Nichtwählen ein politisches Statement setzen wollten oder Wahlen auch nur für die als sinnvoll erachteten, „die im Leben noch eine Wahl haben“. Martin Tertelmann zeigte Lösungsansätze auf, indem er auf die abgeleiteten Wünsche aus den Interviews verwies: „Hört uns zu, interessiert euch für unsere Lebenswirklichkeit und redet mit uns. Ignoriert uns nicht und setzt euch für uns ein.“ Dieses Leitmotiv des „Zuhörens“ gerade derer, die sich ausgegrenzt und abgehängt fühlen, bezog sich aber nicht nur auf die Politiker. Es sei etwas, was jeder Einzelne tun kann, wenn wir mit der Reintegration in die Gemeinschaft ernst machen. Daher schloss Martin Tertelmann mit Tipps, wie „Kontakt zu armen Menschen suchen“, „Orte besuchen, an denen sich arme Menschen treffen“ oder „verstehen statt bemitleiden“.
Lösungsansätze und persönliche Schicksale
Anschließend stellten Luise Janke, von der Denkfabrik und selbst langzeitarbeitslos, und Dirk Stöver, Quartiersmanagement Neue Vahr, gemeinsam die Ergebnisse des Workshops am Vormittag vor. Zunächst sei die Problemlage diskutiert, dann seien Lösungsansätze aufgezeigt worden. Bei den Problemen ging es teilweise um persönliche Schicksale, aber auch um die schwierige Zusammenarbeit zwischen Langzeitarbeitslosen und Behörden sowie Jobcentern. Die Forderungen reichten von „Hartz IV abschaffen“ über „passgenauere Qualifizierungsmaßnahmen“ bis „Kinder besser fördern“.
„Was ich an diesen Ergebnissen gut finde, ist, dass man zwar immer sagt ‚Langzeitarbeitslose meckern nur‘, aber sie machen sich auch Gedanken um Lösungen“, so Luise Janke. Ihr Wunsch war es, dass die Politik diese Lösungsansätze ernst nimmt und daran gemeinsam mit Langzeitarbeitslosen arbeitet. „Es ist politisches Interesse da“, betonte sie. Das habe auch die Studie gezeigt, nach deren Abschluss viele der Befragten doch zur Wahl gegangen seien.
In der anschließenden Diskussion, moderiert von Landesdiakoniepastor Manfred Meyer, meldeten sich viele der Anwesenden, u.a. die Vizepräsidentin der Bremischen Bürgerschaft Sülmez Dogan (Bündnis 90/Die Grünen), die arbeitsmarktpolitische Sprecherin Birgit Bergmann (FDP), Sprecher des Beirates Vahr Bernd Siegel (SPD), Geschäftsführerin des Jobcenters Bremen Susanne Ahlers sowie Vertreterinnen und Vertreter von Bündnissen, Kirche und Diakonie, mit ganz unterschiedlichen Positionen zu Wort. Besonders über die Frage, was Politik leisten kann wurde viel gesprochen. Am Ende konnten aber alle Anwesenden den guten Gedanken mitnehmen, dass es um zwei Dinge geht: Dem anderen Menschen zuhören und mit ihm gemeinsam Lösungen entwickeln.
Hier mehr über die Studie "Gib mir was, was ich wählen kann" erfahren!