Füreinander da sein
Sozialdiakonische Arbeit in Bremen
Zehn verschiedene Stadtteile, zehn unterschiedliche Angebote, ein gemeinsames Ziel – die sozialdiakonische Arbeit in Bremen macht Kirche erlebbar und schafft Möglichkeiten der Begegnung. „Füreinander da zu sein – das ist das, was Kirche und Glaube im Herzen ausmacht“, sagt Mary Dierssen, Mitarbeiterin in einer sozialdiakonischen Stelle der BEK, auch intern 10-B-Stellen genannt. Sie arbeitet in der Bremer Neustadt, ihre Angebote werden aber von Menschen aus ganz Bremen angenommen. „Einer meiner Schwerpunkte ist das Projekt Paula+. Hier versuche ich über einen Facebook-Auftritt niederschwellig Alleinerziehende aus ganz Bremen zu informieren und zur Vernetzung einzuladen.“ Auch wenn Dierssen im Bremer Süden verankert ist durch ihre Stelle in der Vereinigten Evangelischen Gemeinde Bremen-Neustadt, erreichen sie auch viele Anfragen von Alleinerziehenden aus ganz Bremen. „Wir haben das Angebot hier angesiedelt, weil eine Evaluation ergeben hat, dass viele Alleinerziehende in der Neustadt leben und Angebote dort in Anspruch nehmen.“
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
Neben der Facebook-Seite von Paula+, der Beratung von Alleinerziehenden, der Entwicklung von Bildungsangeboten und dem Austausch mit anderen Akteuren in diesem Bereich geht es bei Mary Dierssens Arbeit vor allem auch um die Arbeit mit verschiedenen Generationen und Kulturen im Stadtteil. „Ich habe einen bunten Blumenstrauß an Aufgaben“, betont Dierssen. Dadurch würden oft auch schöne Synergien entstehen – wie bei der Arbeit mit den Alleinerziehenden und den Kultur-Coaches. „Viele Alleinerziehende haben Migrationshintergrund. Diese Zielgruppe haben wir vorher durch unsere Angebote gar nicht erreicht, weil sie nicht in die Kirche gegangen sind. Hier helfen die Kultur-Coaches sehr dabei, miteinander in Kontakt zu kommen.“
Strand der Gemeinde als Treffpunkt
Die Ideen in der Gemeinde, um Treffpunkte zu schaffen, sind kreativ: „Für die Menschen aus der Neustadt, die im Sommer nicht an den Strand fahren können, haben wir unseren Beach ins Leben gerufen“, so Dierssen. Auf dem Gelände am Mehrgenerationenhaus Matthias-Claudius werde im Sommer Sand aufgeschüttet, um ein bisschen Urlaubsgefühl zu verbreiten. Dazu gibt es eine ganze Reihe von Angeboten für Jung und Alt, wie Kochevents, das Alleinerziehenden-Frühstück, einen Sandburgenwettbewerb, Kino und die Beachclub-Party. „Es ist ein niederschwelliges Angebot für alle Menschen im Stadtteil. Und dadurch entstehen immer wieder tolle Dinge – zum Beispiel eine Seniorin, die einer jungen Mutter Unterstützung mit ihrem Neugeborenen anbietet, während die beiden Söhne im Sand toben.“ Und aus solchen Situationen erwächst oft noch viel mehr: So habe diese ältere Dame auch einen Garten, in dem die Jungs der jungen Mutter nun Fußball spielen und dafür auch den Rasen mähen. Eine Win-Win-Situation.
Neue Kompetenz entdeckt
Seit 2010 ist Mary Dierssen in der Gemeinde im Rahmen der 10B-Stelle als Familienberaterin tätig. Ihre Schwerpunkte haben sich im Laufe der mehr als zehn Jahre immer wieder verändert – so schaffte sie zunächst Begleitstrukturen für Familien im Stadtteil. Später kamen Paula+ und die Kultur-Coaches hinzu. „2014 habe ich eine Weiterbildung zum Quartiersmanagement besucht und für mich dadurch ganz neue Kompetenzen entdeckt“, so die Familienberaterin. So habe sie gelernt, wie man bestehende Strukturen und Ressourcen im Stadtteil bündelt und erweitert. Ein Beispiel dafür sei das Stadtteilkaffee. „Das gab es schon, von drei Ehrenamtlichen organisiert. Jetzt ist das aber deutlich ausgeweitet – es gibt immer wieder ein anderes interkulturelles Motto.“ Wie der Nachmittag mit Tapas und spanischer Musik oder ein syrischer Lyriker, der ein Gedichtnachmittag durchgeführt hat. „Solche Angebote werden immer gerne angenommen.“ Genauso wie die Nachbarschaftskneipe, bei der das Mehrgenerationenhaus die Räume für ein Treffen der Nachbarschaft zur Verfügung stellt. „Hier sind wir als Kirche gar nicht aktiv dabei, sondern bieten nur den Raum sich zu treffen und bei Kneipenatmosphäre auszutauschen. Denn die Nachbarn haben in ihren Mietwohnungen oft gar nicht den Platz, um solch ein Treffen zu organisieren.“
Akzeptanz durch Wertschätzung
An das Mehrgenerationenhaus ist auch eine Kita angeschlossen – das Miteinander der Generationen, so wie es heute gelebt wird, war jedoch zu Beginn keine Selbstverständlichkeit. „Zu meiner PEKiP-Gruppe mit Bewegungsangeboten für das erste Lebensjahr kam zunächst viel Kritik. Die älteren Damen, die zeitgleich im Café waren, haben sich darüber geärgert, dass die Babys in der Kirche, teilweise nackig, krabbelten. Es wurde als unpassend empfunden“, erinnert sich Dierssen. Diesen Konflikt konnte die Quartiersmanagerin jedoch schnell auflösen. „Nach der Stunde habe ich die Mütter gefragt, ob sie nicht einen Kaffee trinken wollen. Lust hatten sie, aber wohin mit den Babys? Ich sprach daraufhin die älteren Damen an, die zuvor verärgert waren, ob sie nicht aushelfen und mit den Kindern im Wagen rund ums Mehrgenerationenhaus spazieren gehen könnten während die Mütter einen Kaffee trinken.“ Die älteren Damen haben diese Aufgabe sofort übernommen und der Konflikt, die Missgunst war sofort vergessen. „Die Damen scharrten quasi schon mit den Hufen als die Gruppe das nächste Mal zusammenkam und wollten wieder mit den Kindern spazieren. Wir haben es geschafft, die Bedürfnisse zusammenzubringen. Die Mütter brauchten eine kleine Pause und die älteren Damen wollten gebraucht und wertgeschätzt werden. Das war in meinen Augen ein gesellschaftlicher Meilenstein“, so Dierssen. Das war übrigens auch die Geburtsstunde des Oma/Opa-Hilfsdiensts – der auch in der Corona-Pandemie sehr wichtig war und ist.
Besonders gefordert in der Pandemie
„Meine Arbeit war noch nie so sinnhaft, wie in der Pandemie“, so Dierssen. Viele Alleinerziehende sind im Gastronomie-Bereich tätig, als ALGII-Aufstockung in Minijobs in Restaurants, Clubs, Reinigungen, Kantinen und so weiter. „Das ist im Lockdown mit einmal weggebrochen.“ Und noch dazu kam die Belastung durch Homeschooling der Kinder. Das sei für viele eine große Herausforderung gewesen, insbesondere als zu Beginn Ressourcen wie Computer/Tablets fehlten. „Ich habe zahlreiche Anträge für Alleinerziehende geschrieben – für technische Geräte und auch für die Kinderbetreuung als diese wieder losging.“ Man könne sich die doppel- und dreifach Belastung der Ein-Eltern-Familie gar nicht vorstellen. „Wenn eine Alleinerziehende zwei oder drei Kinder hat und alle an verschiedene Schulen gehen, ist der Aufwand des Homeschooling dreimal so hoch. Denn für den Grundschüler soll sie Zettel aus der Schule abholen, für den Fünftklässler ein Zoom-Meeting starten – was ohne PC gar nicht geht. Also muss sie anschließend bei dem Klassenkammeraden anrufen und fragen, was in dem Zoom-Meeting gemacht wurde. Das kann ein Fünftklässler nicht alleine.“ Schließlich seien die Kinder ohne PC zunächst ausgeschlossen gewesen – und viel zu wenig sei zu Beginn einheitlich gewesen. Im Verlauf der Pandemie wurde das zwar besser, auch durch die Ipads für alle Schüler*innen. Doch zunächst mussten die Alleinerziehenden improvisieren. Hier kam der Oma/Opa-Hilfsdienst auch zum Einsatz. „Wir haben junge Senior*innen und Nachbar*innen gebeten, die Zettel aus der Schule abzuholen und bei den Alleinerziehenden in den Briefkasten zu werfen. Das war wenigstens eine kleine Entlastung.“
Walk & Talk als neues Format
In der Pandemie hat Mary Dierssen auch Beratungen per Videokonferenz angeboten. In der Beratung hat sie den Alleinerziehenden oft empfohlen, nach draußen zu gehen – für die Kinder, für die eigene Psyche. „So kam ich auf die Idee, eine Beratung draußen beim Spaziergang anzubieten. Das Format Walk & Talk wurde sehr gut angenommen.“ Hier brauchte es keine Kinderbetreuung, weil die Kinder auf dem Lauf- oder Dreirad mit dabei sein konnten – es war Bewegung und frische Luft für alle. Das Format plant Mary Dierssen weiter fortzuführen, denn schließlich brauche man für eine Beratung nicht zwangsläufig ein Büro. Kreativ sein und Neues entwickeln – das liegt Mary Dierssen offenkundig.
Beratung rund um das Thema Impfen
Während es für viele Alleinerziehende selbstverständlich war, sich schnellstmöglich impfen zu lassen, um sich und andere in der Pandemie zu schützen, brauchte es im Rahmen des Kult-Coaches-Projekt deutlich mehr Beratung zu diesem Thema. „Menschen mit Migrationshintergrund, die eine andere Regierung, ein anderes Gesundheitssystem kennen, haben Vertrauensprobleme und empfinden einen großen Druck sich impfen zu lassen“, erklärt Dierssen. Deshalb sei es wichtig gewesen, frühzeitig viel Aufklärungsarbeit zu leisten. „Eine Projektmitarbeiterin, die selbst aus Ägypten stammt und eine moderne Muslima ist, hat für uns übersetzt. Das war sehr wichtig, um Vertrauen aufzubauen und Orientierung zu bieten.“ Die Pandemie habe deutlich gezeigt, wie wichtig das interdisziplinäre Arbeiten und Übersetzen ist, um Menschen zu erreichen, die erst 2015 zu uns gekommen sind.
Gemeinschaft trotz Lockdown
Während es im Kultur-Coaches-Projekt viel um Verständnis der Pandemie und Maßnahmen ging, sei es hingegen bei Paula+ in der Pandemie sehr wichtig gewesen, für die Alleinerziehenden da zu sein und sie durch den Alltag zu begleiten. „Hier ging es nicht um große Maßnahmen, sondern einfach darum, ihnen zur Seite zu stehen.“ Alleinerziehende fühlen sich eh meist, so die Beraterin, an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Es sei ihre Fürsorge-Aufgabe, ihr sozial-diakonischer Auftrag, für diese Menschen da zu sein. „Viele Alleinerziehende fühlen sich als Außenseiter, gescheitert. Wenn dazu noch die soziale Isolation durch die Pandemie kommt, können sich schnell Depressionen einstellen. Deshalb wollen wir mit Paula+ etwas dagegensetzen, die Alleinerziehenden stärken, auch ihr Selbstbewusstsein“, sagt die Familienberaterin, die selbst alleinerziehend ist.
Gehwegfrühstück gibt Kraft
Viele Alleinerziehende hätten sich im Lockdown bewusst isoliert – um die Kinder zu schützen und auch um als alleiniger Versorger*in nicht auszufallen. Ein wichtiger Baustein sei hier das Gehwegfrühstück gewesen. Auch, wenn man sich in der Kirche nicht mehr treffen konnte, so war es doch draußen im öffentlichen Raum möglich. „Das Gehwegfrühstück war unter Pandemiebedingungen ein echtes Highlight. Die Alleinerziehenden haben hier in einer Zeit der Isolation und Einsamkeit etwas Gemeinsames, Zugehörigkeit erlebt. Es gab den Austausch, man wusste, man ist nicht allein in dieser Situation. Es gab die Hoffnung, dass es irgendwann besser wird“, erinnert sich Dierssen zu Tränen gerührt. Dieses Frühstück habe viel Kraft gegeben in einer schweren Zeit. Es sei mit all der Hoffnung auf eine bessere Zukunft wie eine Art Gebet gewesen – für Mary Dierssen, selbst praktizierende Christin, hat sich in dieser Zeit Kirche und Sozialdiakonie auf das reduziert, was in ihren Augen am Wichtigsten ist: Die Menschen, das füreinander Dasein, das Miteinander, die Nächstenliebe.