„Eine Tragödie - und Leid für die Kinder“
Diakonissenmutterhaus Bremen lädt ehemalige Verschickungskinder aus dem Adolfinenheim auf Borkum zum Austausch ein
„Ich hatte immer Angst. Alles musste schnell gehen, immer war es laut. Nach der Kur war meine Kindheit vorbei.“ Das war 1979, und Silke Ottersbach war gerade einmal zehn Jahre alt. Ihre sogenannte Kur verbrachte sie im Adolfinenheim auf Borkum, ein bis 1980 von Bremer Diakonissen geleitetes Haus, in das von 1921 bis 1996 rund 90.000 Kinder verschickt worden sind. Eine im Auftrag von Kirche und Diakonie entstandene Studie über das Heim wurde im Januar veröffentlicht. Dies hat das Diakonissenmutterhaus in Bremen-Gröpelingen zum Anlass genommen, mit Betroffenen ins Gespräch zu kommen.
"Zwischen Erholung und Zwang"
Wahrnehmen – unter diesem Leitwort stand der Nachmittag, zu dem rund 20 ehemalige Verschickungskinder anreisten. Vorbereitet wurde die Veranstaltung von der Leitenden Schwester der Diakonieschwesternschaft Bremen, Diakonin Ulrike Kothe, Seelsorger Pastor Thomas Rothe sowie Silke Ottersbach. Sie engagiert sich in dem 2023 gegründeten Verein Initiative Verschickungskinder und leitet die Borkum-Austauschgruppe.
Die Studie „Zwischen Erholung und Zwang“ von Gerda Engelbracht und Achim Tischer, die beide anwesend waren, zeigt den Alltag im Adolfinenheim auf, in dem ein hartherziges, strenges und von schwarzer Pädagogik geprägtes Regiment herrschte, dem die Kinder im Alter von 2 bis 14 Jahren ausgeliefert waren.
Ulrike Kothe erkannte das Leid der Kinder im Adolfinenheim an. „Die leitenden Mitarbeitenden waren Schwestern hier aus dem Bremer Mutterhaus. Oberinnen, meine Vor- Vor- Vor-Vor-Vorgängerinnen, die nicht wahrnehmen wollten, welche Probleme es gab. Ein Kreis von Trägern, die über den Kurbetreib im Adolfinnenheim wachten – ohne hinzuschauen, was dort wirklich geschah. Die noch in den 1970-er Jahren nicht hören wollten auf die Hinweise von drei Praktikantinnen, sondern diese als Denunziantinnen verunglimpften. Eine Tragödie - und Leid für die Kinder.“
Altenfelder: Dankbar, dass Betroffene mit uns sprechen
Dass diese Tragödie bis heute nachklingt, betonte auch der Schriftführer der BEK, Dr. Bernd Kuschnerus: „Leidvolle Erfahrungen verschwinden nicht einfach.“ Er hoffe, dass die Betroffenen einen Weg finden, mit den Erinnerungen umzugehen und bot die Unterstützung der Kirche an. Karin Altenfelder, Landesdiakoniepastorin und Vorständin des Diakonischen Werkes Bremen, sagte: „Ich bin dankbar, dass es Betroffene gibt, die die Kraft und den Mut haben, mit uns zu sprechen.“ Es sei nun die Aufgabe, genau hinzusehen und in Kirche und Diakonie besser aufeinander achtzugeben.
Bei vielen ehemaligen Verschickungskindern hatte ein Fernsehbericht bei „Report Mainz“ im Jahr 2019 tief Verschüttetes hervorgebracht, berichtete Silke Ottersbach. Auch bei ihr: „Ich hatte Flashbacks, bekam Depressionen. Nach 40 Jahren war alles wieder da.“ Sie arbeitet ihre Zeit im Adolfinenheim mit einer Trauma-Therapie auf.
In den meisten Familien wurde nach der Rückkehr aus der zumeist sechs Wochen dauernden Kur kaum über das Erlebte gesprochen. Bei Uwe Rüddenklau, der 1970 als Sechsjähriger ins Adolfinenheim kam, war das anders. „Meine Familie hat mich aufgefangen“, sagt der heutige Vorsitzende der Initiative Verschickungskinder. Im Diakonissenmutterhaus unterstrich er die Bedeutung einer zentralen Anlaufstelle für Verschickungskinder sowie eine wissenschaftliche Aufarbeitung. „Unser Verein kann dies nicht alles leisten.“ Für die Insel Borkum, auf der es zeitweilig bis zu 30 Verschickungsheime gab, wünschte er sich eine Erinnerungsstele.
Kontakt für Betroffene:
www.verschickungsheime.de
Silke Ottersbach, Borkum-Austauschgruppe: borkum@verschickungheime.de
Uwe Rüddenklau, Vorsitzender: vereinsvorsitz-01@verschickungsheime.de
(Text und Fotos: Ute Schröder)