Ein Tag in der Pflege
Landesdiakoniepastor macht ein „Praktikum“ in der Pflege und lernt den Alltag auf einer Dementenstation kennen
Dienstagmorgen, 6:30 Uhr. Draußen ist es dunkel und regnerisch, doch im Evangelischen Diakonissenmutterhaus, Haus Emmaus gGmbH, beginnt bereits der Tag. Heute als Praktikant mit dabei: Landesdiakoniepastor Manfred Meyer. Im hellblauen Kasack begleitet er Schwester Jessica Wirth, Wohnbereichsleitung der blauen Station (Demenz), bei ihrem Frühdienst. Ob Hilfe bei der Morgentoilette, beim Anziehen, beim Frühstück – Manfred Meyer ist bei allem dabei und hilft tatkräftig mit. „Es ist mir ein Anliegen, gerade auch die Situation der Mitarbeitenden in der Dementenpflege angemessen wahrzunehmen. In verschiedenen Gremien diskutiere ich in meiner Funktion über die Pflege und als Diakonisches Werk beziehen wir Position. Deshalb möchte ich durch dieses Praktikum einen kleinen Einblick in die Pflege bekommen“, begründet er seine Motivation für das Praktikum.
Individualität wird geschätzt
Und diese Gelegenheit bekommt er im Frühdienst. Er schüttelt Bettwäsche aus, unterstützt beim Zähneputzen und Haarekämmen. Dann begleitet er Bewohnerinnen und Bewohner der Station zum Frühstück im Gemeinschaftsraum – egal ob untergehakt, mit Rollator oder im Rollstuhl, es geht immer im eigenen Tempo des Bewohners voran. Das, so wird schnell klar, ist ohnehin ein zentraler Aspekt der Pflege im Diakonissenmutterhaus. Die Individualität, die Wünsche und Bedürfnisse des Bewohners oder der Bewohnerin stehen im Vordergrund. „Die Menschen leben hier“, bringt es Schwester Jessica auf den Punkt. Es sei wichtig, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind und ihnen nichts aufzuzwingen. „Das ist etwas, dass das Diakonissenmutterhaus ausmacht. Den Menschen zu sehen“, bestätigt auch Heimleitung und Vorständin Insa Paßmann.
Frühstück ohne Hektik
Schwester Jessica kennt alle Bewohner und Bewohnerinnen ihrer Station genau. Obwohl sie die Vorlieben kennt, fragt sie dennoch immer nach, wie ein Bewohner seinen Kaffee trinken möchte. Sie bevormundet nicht, ist den Menschen zugewandt – genau, wie auch ihre Kolleginnen. Das Frühstück wird ohne Hektik eingenommen, es herrscht eine gemütliche und ruhige Atmosphäre. Manfred Meyer schenkt Kaffee nach, wo es gewünscht ist und verteilt Brötchen. Die Bewohnerinnen und Bewohner dürfen dabei selbst aussuchen, ob sie ein hartes oder weiches Brötchen möchten. Wurst und Käse stehen auf dem Tisch. Wer kann, schmiert sich sein Brötchen selbst. Bei anderen Bewohnern und Bewohnerinnen unterstützen die Pflegekräfte und auch der Landesdiakoniepastor als Praktikant dabei.
Alle verstehen sich gut
Es ist kein Wunder, dass sie gerne im Diakonissenmutterhaus geblieben ist. „Unsere Mitarbeitenden verlassen uns eigentlich nur für den Ruhestand oder weil sie aus privaten Gründen wegziehen“, sagt Insa Paßmann. Die familiäre Atmosphäre („klein aber fein“) ist es, die von den Mitarbeitenden immer wieder gelobt wird. „Durch die Herzlichkeit im Haus ist es ein Zuhause für die Bewohner und Bewohnerinnen und auch für uns als Mitarbeitende“, bestätigt Schwester Jessica. Und auch ihre Kollegin Schwester Elisabeth Osmers, die Schwester Jessica schon in ihrem FSJ begleitet hat, betont das gute Klima im Team. „Das Besondere an diesem Haus ist, dass wir uns alle sehr gut verstehen. Jeder hat ein offenes Ohr für die anderen. Ich komme immer gerne hierher, auch, wenn es mal stressig ist“, sagt die examinierte Pflegehelferin, die als Quereinsteigerin zum Diakonissenmutterhaus kam und seit 2002 Teil des Teams der blauen Station ist.
Natürlich gibt es Herausforderungen, denen man sich stellen müsse. So sei es, laut Schwester Jessica, schwer, auf der Dementenstation den Tag vorab zu planen. Gerade auch durch das Eingehen auf die Wünsche der Bewohner entstehe manches spontan. „Dafür bekommen wir aber auch viel Anerkennung und Dank von den Bewohnern“, so Schwester Jessica. Das erlebt auch der Landesdiakoniepastor, der beim Frühstück viele strahlende Gesichter sieht.
Turnangebot für alle, die Lust haben
Nach dem Frühstück bereitet er das Fingerfood (Obst) für die Bewohner*innen vor, das sie sich nach eigenem Ermessen nehmen dürfen. Zeitgleich bereitet die Beschäftigungstherapeutin Birgit Becker schon das Turnangebot vor. Alle die möchten, dürfen mitmachen. Und auch Landesdiakoniepastor Manfred Meyer ist natürlich dabei. Die Bewohner*innen sitzen im Kreis, singen und bewegen sich (soweit möglich) zur Musik: „Wir heben das Bein und strecken den Arm. Und heben die Schultern, dann wird uns schon warm“
Im Gespräch mit den Pflegekräften
In der anschließenden Pause hat Manfred Meyer die Gelegenheit, mit ein paar Kolleginnen aus dem Team der blauen Station ins Gespräch zu kommen und nachzufragen, was er in die verschiedenen Gremien als Landesdiakoniepastor mitnehmen kann. „Alle wünschen sich einen besseren Personalschlüssel“, so Manfred Meyer. Das verstehe er gut, denn auch ihm leuchte es nicht ein, warum es in Bayern oder Hessen bessere Personalschlüssel gibt als in Bremen. „Der Bedarf ist derselbe, warum soll es dann nicht auch gleiche Personalschlüssel geben?“, so der Landesdiakoniepastor. Ein weiteres Thema, das Manfred Meyer von diesem Tag mitnehmen wird, ist der Blick auf die neue Generation, die mehr auf Work-Life-Balance achtet. Eine gute Bezahlung, wie sie in der Diakonie mit dem AVR gesichert ist, darf dabei aber natürlich auch nicht aus dem Blick geraten. (In der Diakonie verdient eine Pflegefachkraft etwa 3.000 Euro nach AVR) Deshalb will sich der Landesdiakoniepastor auch weiterhin für eine gute Refinanzierung einsetzen, aber ohne eine zusätzliche Belastung der Bewohner und Angehörigen. „Die Pflegeversicherung muss sich verändern“, erklärt er seine Position.
Diakonisse zu Besuch
Nach der Pause geht der Alltag auf der Station weiter. Aus dem Radio kommt Musik, einige Bewohner und Bewohnerinnen sitzen im Gemeinschaftsraum zusammen und genießen den Sonnenschein, der durchs Fenster fällt. Die Stimmung ist freundlich und gemütlich, wie in einer großen Wohngemeinschaft oder einer großen Familie. Dann kommt Schwester Grietje zu Besuch. Die Diakonisse im Feierabend (eine Diakonisse lebt und dient in einer verbindlichen evangelischen Lebens-, Glaubens- und Dienstgemeinschaft, tritt sie in den Ruhestand nennt man das „Diakonisse im Feierabend“) besucht die Station regelmäßig, wendet sich den Bewohnerinnen und Bewohnern zu und macht Bewegungsangebote. „Es ist toll, dass die Diakonissen diesen guten Geist ins Haus gebracht haben und bis heute bringen“, betont der Landesdiakoniepastor. Er hat sich bewusst für das Praktikum im Diakonissenmutterhaus entschieden, weil es ihm auch wichtig war, zu erleben, wie die Diakonissen zusammen mit den Mitarbeitenden in den Bereichen zur besonderen Kultur des Hauses beitragen.
Führung durchs Haus
Doch der Dienst ist noch nicht zu Ende. Weiter geht es mit einem Umzug einer Bewohnerin von der gelben auf die blaue Station. Bei der Übergabe ist Manfred Meyer dabei und erlebt so auch den bürokratischen Teil der Arbeit einer Wohnbereichsleitung. Anschließend führt Schwester Jesscia ihn noch durchs Haus, zeigt den Andachtsraum, den Snoezelen-Raum (unter Snoezelen wird der Aufenthalt in einem gemütlichen, angenehm warmen Raum verstanden - es soll Wohlbefinden erzeugen) und die große Cafeteria, in der auch Menschen aus dem Stadtteil zum Essen vorbeikommen. Auf der Station gibt es zeitgleich ebenfalls Mittagessen, dann ziehen sich viele Bewohnerinnen und Bewohner zurück und es kehrt ein wenig Ruhe ein. Schwester Jessica nutzt die Gelegenheit und zeigt Manfred Meyer das Buch „Unvergessen“ und die „Abschiedskiste“ - zwei wichtige Elemente, um auch dem Sterben im Haus Raum zu geben. In dem Buch wird jeder verstorbene Bewohner und jede verstorbene Bewohnerin aufgeführt, mit Foto und Widmungen von Angehörigen und den Mitarbeitenden. „So wird niemand vergessen“, sagt der Landesdiakoniepastor anerkennend, der dieses Buch und auch die „Abschiedskiste“ mit Material für die letzten Stunden (Vater Unser, Handschmeichler, Kerze) als große Hilfe beim Abschied empfindet. „Es ist toll, dass der Abschied von den Menschen, mit denen man ein Stück des Weges gegangen wird, bewusst gestaltet wird“, so der Pastor.
"Wir geben den Menschen ein Zuhause"
Das liegt auch Schwester Jessica sehr am Herzen und sie betont am Ende dieser Schicht nochmal ganz deutlich: „Altenpflege ist mehr als Essen anzureichen und jemanden zur Toilette zu bringen. Wir geben den Menschen ein Zuhause.“
Im anschließenden Gespräch mit Heimleitung und Vorständin Insa Paßmann zieht der Landesdiakoniepastor ein durchweg positives Fazit. Viele Eindrücke hat er mitgenommen, insbesondere das Schätzen der Individualität des Einzelnen wird ihm in guter Erinnerung bleiben. Und viele Gedanken wird er zukünftig gerne in Gremien einbringen. Ganz oben auf der Agenda steht auch die Werbung für die Altenpflege. Denn es braucht dringend mehr Menschen, die sich für den Pflegeberuf begeistern. Erst dann könnte man einem erhöhten Personalschlüssel, (sollte er kommen) wie von den Pflegekräften gewünscht, überhaupt gerecht werden.
Wohlbefinden der Bewohner hat höchste Priorität
Für die 26 Personen auf der blauen Station waren heute eine Pflegefachkraft, mehrere Pflegehilfskräfte, eine Hauswirtschaftskraft und eine Beschäftigungstherapeutin da. „Wir haben immer etwas mehr Personal als der Personalschlüssel vorgibt. Das ist ein Drahtseilakt, aber es bedeutet auch Qualität. Bei uns hat das Wohlbefinden der Bewohner höchste Priorität “, betont Insa Paßmann. Für die Mitarbeitenden bedeute es außerdem ein angenehmeres Arbeiten. Wichtig ist dafür aber auch eine angemessene Refinanzierung, für die sich der Landesdiakoniepastor auch weiterhin einsetzen wird. „Und ich möchte für die Altenhilfe werben, denn ich habe auch heute wieder gesehen und erlebt, wie wichtig dieser persönliche Dienst für ältere Menschen ist.“